HELTER SKELTER ON WHEELS - Leseprobe

Kapitel 2 – Höllentrip

 


Das Skateboard locker unter den Arm geklemmt, liefen sie ein Stück die Straße hoch, um noch zwei Kurven mehr von der Strecke ausnutzen zu können. Sie beeilten sich, denn eigentlich waren sie schon fast etwas spät dran und die Garantie, dass kein Auto kam, hatten sie ja sowieso nie. Deshalb war es umso wichtiger, dass sie so früh wie möglich die Straße hinunterrasten.

»Ich hab mir gestern noch neue Rollen montiert«, sagte Soraya, kurz bevor sie am Startpunkt ankamen. »Das sollen die schnellsten Rollen überhaupt sein. Ich bin mal gespannt, ob ihr mir hinterherkommt.«

»Dann pass mal auf, dass du nicht schon aus der ersten Kurve fliegst«, antwortete Joe, der seinem Ruf als Papa der Truppe schon zum zweiten Mal an diesem Morgen gerecht wurde.

»Oh Mann, das musste ja kommen«, stöhnte Soraya und winkte ab.

»Ja genau, pass schön auf dich auf, meine Kleine«, bestätigte Ville auf ironische Weise seinen Freund Joe. Was ihm aber sofort einen Schlag auf den Helm einbrachte.

»Also dann, seid ihr bereit? Wenn ihr jetzt mal fertig mit diskutieren seid, dann würde ich gerne losfahren, bevor die Sonne wieder untergeht«, drängelte Amy, die es gar nicht erwarten konnte, gegen Sorayas neue Wunderrollen anzukämpfen.

»Los geht´s«, schrie Ville und wie bei jedem Start einer halsbrecherischen Abfahrt brüllten alle gleich danach wie aus einem Mund.

»HELTER SKELTER«.

Sie ließen ihre Skateboards nach vorne auf den Boden fallen und alle vier sprangen zielsicher auf ihr Brett. Die erste Kurve nahmen sie noch gemeinsam. Gleich danach konnte sich aber Soraya schon ein wenig von der Gruppe absetzen.

»Seht ihr«, schrie sie gegen den Fahrtwind an. »Ihr habt keine Chance heute gegen mich«.

Joe verkniff sich einen weiteren Kommentar, obwohl er ihr am liebsten noch mal gesagt hätte, dass sie vorsichtig fahren solle. Er hatte überhaupt kein gutes Gefühl bei der Sache. Aber schließlich wollte er ja nicht als Moralapostel oder so dastehen und fuhr einfach weiter.

Die Strecke begann etwas steiler zu werden. Die Geschwindigkeit war eigentlich jetzt schon viel zu hoch. Doch das war sie letztlich immer, wenn sie diese Serpentinen hinunterrasten. Plötzlich kam ihnen wie aus dem Nichts aus der nächsten Kurve ein Auto entgegen. Der Fahrer rechnete wohl auch nicht mit Gegenverkehr am frühen Morgen, steuerte sein Auto fast mitten auf der Straße durch die Kurve und erschrak fast zu Tode, als er vier Wahnsinnige auf Skateboards auf sich zurasen sah. Da er überhaupt keine Möglichkeit hatte auszuweichen, schloss er instinktiv die Augen und wartete auf den Aufprall.

Soraya war die Erste, die auf das Hindernis zukam, und reagierte blitzschnell. Sie lenkte ihr Board ohne nachzudenken auf die rechte Seite und kam so auf der Innenseite der Kurve ganz knapp zwischen Auto und Straßenbegrenzung noch mal mit einem Schrecken davon. Da der Wagen mitten auf der Straße fuhr, war auch ihre eigentliche Fahrbahn stark verengt. Obwohl Soraya wusste, dass es unglaublich gefährlich war, drehte sie den Kopf nach hinten, um nach ihren Freunden zu sehen.

Ville wählte die gleiche Spur wie Soraya. Joe und Amy entschieden sich für die Außenbahn, da sie sowieso schon auf der falschen Seite fuhren. Für sie war es ein unglaubliches Glück, dass sich ihr Hindernis mitten auf der Fahrbahn befand. Ansonsten hätten sie nicht die geringste Chance gehabt, zwischen Auto und Leitplanke hindurch zu kommen. Trotzdem hatten sie größte Mühe ihre Skateboards so stark nach innen zu belasten, dass bei dieser Geschwindigkeit der Kurvenradius eng genug blieb, um durch die Kurve zu kommen. Amys Rollen kamen der Randbegrenzung, auf der viel zu viel Kies lag, gefährlich nahe und wahrscheinlich holperte sie auch nur deshalb einigermaßen gut über die kleinen Steinchen, weil die ganze Last auf den inneren Rollen lag.

Für Joe war dieser unverhoffte Adrenalinschub eindeutig zuviel und er hatte Mühe sich nach der Kurve wieder auf die Straße zu konzentrieren.

Ein gutes Stück vor ihm drehte sich Soraya mit ihrem Blick endlich wieder in Fahrtrichtung, nachdem sie viel zu lange nach hinten gesehen hatte. Ihre neuen Rollen leisteten ganze Arbeit und ihr wurde schlagartig bewusst, dass sie viel zu schnell war, um durch die nächste Kurve zu kommen. Die einzige Möglichkeit um einen sicheren Sturz zu verhindern, war der verzweifelte Versuch, das Skateboard mit dem selbstangebrachten Stopper zum Stehen zu bringen. Als sie das Brett vorne anhob und der Stopper Kontakt zur Straße herstellte, durchflutete sie ein Gefühl, das ihren Magen zusammenkrampfen ließ. Sie wurde plötzlich so nervös, dass es ihr fast die Kehle zuschnürte. Normalerweise hielten sich die Vibrationen, die dadurch entstanden, in Grenzen, doch heute war es viel schlimmer. Sie hatte keine Zeit sich darüber Gedanken zu machen, ob es an der zu hohen Geschwindigkeit lag, oder am Stopper selbst. Sie spürte nur kurz ein kräftiges Rucken und der Stopper flog in zwei Teilen ihren Freunden, die hinter ihr waren, entgegen. Die Schrauben steckten noch im Holz ihres Skateboards und zogen einen gewaltigen Funkenregen hinter sich her, als sie über den Asphalt schliffen.

Amy, Ville und Joe schauten total verängstigt auf Soraya, bei der man meinen konnte, sie würde eine Silvesterrakete abbrennen. Sie fingen ebenfalls sofort an zu bremsen und hatten das Glück etwas langsamer zu sein. Ihre Bremsstopper hielten der Belastung stand, und sie konnten ihr Tempo verringern.

Soraya versuchte alles, um die Balance auf ihrem Board zu halten und musste dafür aber kurzfristig wieder mit allen Rollen auf den Boden. Für ein erneutes Bremsmanöver hatte sie keine Zeit mehr und um die Kurve würde sie es auch nie schaffen, ohne über die Leitplanke zu fliegen. Da es dahinter ziemlich tief hinuntergehen konnte, entschied sie sich dafür, einfach geradeaus zu fahren und das erste bewusste Gebet ihres Lebens zu sprechen. Sie hoffte einfach, ihr Helm, der Rückenprotektor und die restlichen Schützer würden sie vor schlimmeren Verletzungen bewahren, wenn sie im nächsten Moment mit Vollgas in den Wald krachte. An dieser Stelle war wenigstens keine Leitplanke, weil hier ein Weg zu einer Waldhütte führte.

Sie spürte kurz die Schläge unter ihrem Skateboard, bevor dieses sich in den Steinen komplett verhakte und Soraya in den Wald geschleudert wurde. Wie in Zeitlupe sah sie den Wald um sich kreisen, als sie die erste Drehung noch vollständig in der Luft machte.

Ein Impuls veranlasste sie dazu ihre Arme auszustrecken, um sich abzufangen. Das gelang ihr zwar einigermaßen, aber gleichzeitig spürte sie einen unglaublichen Schmerz im Handgelenk und hörte ein lautes Knacken, das im selben Moment kam wie der Schmerz. Den Rest des Sturzes bekam sie nicht mehr mit. Alles wurde schwarz und die Schmerzen waren verflogen. Ganz dumpf spürte sie überall Schläge an ihrem Körper, bevor sie jedes Gefühl verließ. Sie war in einem Vakuum gefangen, das ihr zwar den Schmerz, aber auch die Sicht, den Geruchs- und den Tastsinn nahm. Für einen kurzen Moment fühlte sie rein gar nichts und irgendwie wollte ihr Körper in diesem Zustand bleiben. Wohl aus Angst vor dem, was sie erwarten würde, wenn ihre Sinne zurückkamen.

Doch das Nächste, was sie spürte, waren die Hände von Joe, der ganz vorsichtig versuchte, sie wieder aus ihrer Ohnmacht aufzuwecken. Also sie die Augen öffnete, sah sie ein erleichtertes Lächeln auf Joes Gesicht.

»Gott sei Dank. Ich hab schon gedacht, du machst die Augen gar nicht mehr auf«, sagte er besorgt.

»Hast du Schmerzen? Kannst du alles bewegen? Wir dachten schon, du überlebst das gar nicht, so wie du hier in den Wald geflogen bist.«

Soraya konnte noch gar nicht antworten. Sie versuchte erst einmal einzuschätzen, welche Stelle am Körper gerade nicht wehtat. Sie fand auf die Schnelle keine einzige. Äußerlich war nur an einem Bein eine große Schürfwunde zu erkennen, in die sich zum Glück nicht das Gewebe ihre Hose eingebrannt hatte. Wenn sie schon auf dem Asphalt gestürzt wäre, hätte das sicherlich deutlich schlimmer ausgesehen. Doch der Waldboden hatte den Sturz etwas gemildert. Nachdem sie alles an ihrem Körper durch Bewegungsversuche überprüft hatte, blieb als einziges ihr Handgelenk, das sie nicht bewegen konnte. Langsam konnte sie sich auch wieder an das Knacken erinnern. Und der Schmerz kam gnadenlos zurück.

»Ich glaub, mein Handgelenk ist gebrochen. Aber sonst ist wohl alles heil«, flüsterte sie zögerlich und versuchte ihren Mund zu einem Lächeln zu verziehen.

»Mensch, machst du Sachen!«, schnaufte Ville sichtlich erleichtert, dass nicht noch mehr passiert war, und musterte Sorayas Hand.

»Da sollten wir wohl schleunigst ins Krankenhaus. Zum Glück ist das ja gleich ein Stückchen weiter die Straße runter.«

»Ich ruf mal schnell zu Hause an und sag Bescheid, dass wir heute nicht zum Frühstück kommen. Meine Eltern rufen eure dann bestimmt an«, sagte Joe und holte sein Handy aus der Hosentasche.

»Bei meinen Eltern können sie es sich sparen. Die interessiert es ja eh nicht, ob ich da bin oder nicht«, antwortete Amy. In solchen Situationen wurde ihr immer schmerzhaft bewusst, dass sie sich manchmal wünschte, so richtig penetrante und nervige Eltern zu haben. Die kümmerten sich wenigstens um ihre Kinder. Auch wenn es nervte. Aber allemal besser, als das Gefühl zu haben, dass sich zu Hause keiner um einen scherte.

Als sie traurig in den Wald zu der Hütte sah, fielen ihr vier kleine weiße Lieferwagen auf, die davorstanden. Das sah an einem Sonntagmorgen um diese Uhrzeit mehr als verdächtig aus. Als ihre Freunde ihr zuriefen, dass sie jetzt hinunter ins Krankenhaus müssten, blieb sie unter dem Vorwand, den Waldboden nach Sorayas Sachen abzusuchen und nachzukommen, noch an Ort und Stelle. Sie wollte nicht unnötig für noch mehr Aufregung sorgen, aber sie konnte hier auch nicht weg, ohne der Sache wenigstens ein bisschen auf den Grund zu gehen.

Amy war unheimlich neugierig. Und das selbst in der Schule. Das verschaffte ihr, obwohl sie niemanden hatte, der sich mit ihr zu Hause hinsetzte, um etwas für die Schule zu machen, die Möglichkeit das Gymnasium zu besuchen. Wenigstens darauf war sie stolz. Dass sie das aus eigenen Stücken und nicht durch ständige Nachhilfe, wie bei so vielen anderen Kindern, geschafft hatte. Das war ihr ganz persönlicher Sieg. Das konnte ihr niemand nehmen. Manchmal wünschte sie sich, andere Kinder würden endlich mal zu schätzen wissen, was es bedeutet, jemanden zu haben, der hinter einem steht. Am liebsten hätte sie denen, die nichts anderes zu tun hatten, als den ganzen Tag auf hohem Niveau zu jammern, einmal so richtig in ihren verwöhnten Arsch getreten.

Als sie alleine war, schlich sie sich ganz vorsichtig näher an die Hütte und versuchte unbemerkt an ein Fenster zu kommen, um einen Blick hineinzuwerfen. Das Gebäude war für eine Waldhütte ziemlich groß und der ausladende Vorplatz, auf dem die Lieferwagen standen, erschwerte es ihr, sich anzuschleichen. Sie wählte einen Weg durch das Gestrüpp, um sich von hinten zu nähern. Sie konnte immer wieder Gestalten vor dem Fenster hin und herlaufen sehen. Ganz langsam, und auf jede Bewegung an der Hütte achtend, tastete sie sich immer näher an diese heran. Sie verzog nur schmerzverzerrt das Gesicht, als sie mit der Wange an einer Dorne streifte. Den Fluch unterdrückte sie aus Angst entdeckt zu werden. Noch hatte sie keine Ahnung, was in dieser Hütte vor sich ging. Irgendwas stimmte nicht, das spürte sie. Und obwohl sie wusste, dass sie lieber umkehren sollte als weiterzugehen, pirschte sie sich zielsicher immer näher an die Hütte heran. Dabei hatte sie das Gefühl, ihr Herz würde ihr vor Aufregung aus der Brust springen.