VOLLSCHLANK - Leseprobe

Kapitel 1

 

Chantal und Hermine waren sich einig, dass es das Schicksal mit ihnen extrem schlecht gemeint hatte. Wahrscheinlich befand es sich damals vor 36 Jahren sogar in einer extrem miesen Phase. Seine beschissene Laune kompensierte es am Tage ihrer Geburt wohl dadurch, zwei unschuldige Babys mit Eltern, die so gar kein Gespür für vernünftige Namen hatten, zu strafen. Und weil das natürlich noch nicht genug war, packte das Schicksal gleich noch die Fettleibigkeit mit drauf und rieb sich hinterher zufrieden, bei einem Feierabendbier, die Hände. In den Augen der beiden Freundinnen war das Schicksal einfach nur ein Arsch. Es hatte auch ihr ganzes bisheriges Leben hart daran gearbeitet, diesem Ruf gerecht zu werden.

Eigentlich übertrieben die beiden Freundinnen kolossal, was die Beschreibung ihrer Körperfülle anging. Doch sie konnten richtig viel Zeit damit verbringen, zu erörtern, warum jetzt gerade sie so sehr benachteiligt waren. Zumindest war das einfacher und auch viel besser, als etwas dagegen zu tun. Mit ihrem Gewicht lagen sie allerdings nur unwesentlich über dem Durchschnitt, aber in ihren Augen waren sie einfach nur dicke Weiber. Jetzt, nach unzähligen Jahren, in denen sie die geilen Männer immer nur an der Seite irgendwelcher flachbrüstigen Hungerhaken wahrgenommen hatten, beschlossen die zwei Freundinnen den Kampf aufzunehmen. Den Kampf gegen ihr schwaches Selbstwertgefühl, den Kampf gegen ihre eigene Lethargie, und wenn dann noch etwas Zeit wäre, wollten sie sich auch noch an den Kampf gegen die zwei oder drei Gramm Übergewicht machen, die sie mit sich herumzuschleppen hatten. Der Traum vom plötzlichen Gewichtsverlust über Nacht wollte sich ja nicht erfüllen. Es war natürlich nicht das erste Mal, dass sie so ein Vorhaben in Angriff genommen hatten. Doch jetzt sollte es klappen. Die Zeit des Zurücksteckens und Leidens sollte endlich vorbei sein. Der Vertrag beim Fitnessstudio bestand ja sowieso schon seit mehreren Jahren. Allerdings hätten sie auf Anhieb nicht einmal sagen können, wo genau sich die Umkleidekabinen befanden. Umgerechnet hatten sie mittlerweile etwa 360€ pro Trainingsstunde ausgegeben. In den letzten zwei Jahren hatte es ihr Terminkalender leider nur vier Mal zugelassen, das Studio zu besuchen. Ganz schön teure Angelegenheit für Schwitzen und Schmerzen ohne messbaren Gewichtsverlust. Und dann auch der schmerzhafte Anblick, der furchtbar durchtrainierten Zicken. Es wurde einem schon einiges abverlangt, wenn man seinem Körper, seinem Aussehen und vor allem seinen Erfolgschancen, bei dem begehrenswerten Anteil der Männerwelt, auf die Sprünge helfen wollte. Fast schon masochistische Grundzüge musste man an den Tag legen, wenn man seine Kleidergröße geringfügig zum Positiven verändern wollte. Die andere Richtung war leichter. Viel leichter. Und machte auch noch furchtbar Spaß. Zumindest solange, bis sich einem ein Spiegel in den Weg stellte.

Chantal und Hermine saßen in einem Cafe und stießen gerade auf die eben beschlossene Agenda „VOLLSCHLANK UND SPASS DABEI“ mit dem Untertitel „und trotzdem wollen wir abnehmen“ an, als vier unverschämt gut aussehende Frauen den Raum betraten. Generell hatten die schon den einen großen Fehler gerade mal zwanzig Jahre alt zu sein. Wenn überhaupt. Das alleine verbuchten Chantal und Hermine schon als Beleidigung der reiferen Generation gegenüber. Was hatten auch die jungen Dinger, die vor ein paar Tagen noch im Kinderparadies bei IKEA abgegeben wurden, in ihrem Cafe zu suchen. Die Klamotten konnten sie wahrscheinlich noch in der Teenie-Abteilung bei H&M kaufen, so schlank waren sie und natürlich drehten sich alle männlichen Köpfe nach ihnen um. Das waren noch mal gut sechshundert Minuspunkte. Röcke, nicht viel länger als ein Gürtel, verhüllten die kleinen Knackärsche der Aushilfsbarbies und für viel Stoff unterhalb der Brust hatten sie scheinbar auch kein Geld. Alle hatten selbstverständlich ein iPhone in der Hand und posteten wahrscheinlich ihren aktuellen Aufenthaltsort gerade bei Facebook. Natürlich mit Foto. Es war zum Kotzen, wie sich die einen an der Theke in Szene setzten, dass die anderen schicke Fotos machen konnten. Keine Delle war an ihren Beinen zu erkennen. Das Wort Orangenhaut hatten die dünnen Dinger wahrscheinlich noch nie gehört und so viel Anstand, ihre perfekten Körper, den etwas Wohlproportionierteren nicht mit einer Schöpfkelle unter die Nase zu reiben, hatten sie zweifelsohne auch nicht. Insgesamt durchbrachen die neuen Gäste des Cafés alleine schon durch das Betreten des Erwachsenenbereichs, die Schallgrenze von tausend Minuspunkten. Hermine fühlte gerade, wie ihre Motivation bei diesem Anblick mit dem Expressfahrstuhl in ein Stockwerk unterhalb des Kellers befördert wurde und saugte den Sekt auf Ex in sich hinein. Innerlich korrigierte sie die zwei oder drei Gramm Übergewicht auf zwei bis drei Tonnen und spürte, wie sie überall am Körper nervöse Flecken bekam. Sie musste handeln.

»Ich hätte gerne den Megaeisbecher mit extra Sahne«, rief sie der Kellnerin hinterher.

»Was machst du denn jetzt? Wir wollten doch in den Kampf ziehen«, sagte Chantal enttäuscht.

»Schau sie dir doch an. Das ist doch ein Kampf gegen Windmühlen. Die sehen uns nicht mal an und mir kommt es vor, als würden sie uns trotzdem auslachen. Die dürren Stelzen sind schuld daran, dass man sich mit Kleidergröße 38 noch fett fühlt.«

»Seit wann hast du 38?«, fragte Chantal verwundert und runzelte die Stirn. Wenn Hermine in 38 passte, warum sie dann nicht auch!?

»Schon immer. Die nähen immer nur das falsche Etikett rein. Oder es fällt eben zu klein aus.«

Hermine bekam ihren Eisbecher und dieses Mal folgten ihr alle Blicke. Beziehungsweise dem Eisbecher, der eigentlich eher ein Eiseimer war. Unzählige Augenpaare waren auf den Kalorienberg und die dicke Frau davor gerichtet. Und alle schienen sich auf die Zunge zu beißen, um einen abfälligen Kommentar zu unterdrücken. Alle, bis auf eine der Hungerhaken mit den Miniröckchen. Die hatte wohl im Kopf schon den Gesamtkaloriengehalt des Eisbechers zusammengerechnet. Sofern sie überhaupt rechnen konnte.

»Schaut euch die an«, grölte die blonde Schönheit an der Theke mitten ins Cafe. »Jetzt ist die schon so fett und muss auch noch so einen Eisbecher reindrücken. Da könnte sie doch genauso gut beim Metzger gegenüber zwei Lappen Fett holen und die sich direkt an die Hüften tackern.«

Das war natürlich der Brüller des Tages. Gleich, nachdem für den Bruchteil einer Sekunde betretenes Schweigen geherrscht hatte, beschlossen doch alle Gäste gleichzeitig, in schallendes Gelächter zu verfallen. Hermine war kurz nach Beschluss der Agenda, mit der alles besser werden sollte, alleine durch den Anblick dieses Miststückes schon am Boden zerstört gewesen. Und jetzt war sie auch noch zum Gespött des ganzen Cafes geworden. Solche Erlebnisse waren auch immer der Grund gewesen, warum sie anstelle des Fitnesstrainings eher ihren Schluckmuskel und die Verdauung in Form gehalten hatte. Kurzzeitig halfen Kalorien immer, um solche Erlebnisse wieder zu verdrängen. Doch am heutigen Tage ließ sich ihre Freundin nicht so einfach unterkriegen und trat an, Hermine bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Heute sollte für die beiden der Anfang einer neuen Zeitrechnung werden. Und deshalb sprang Chantal, völlig unverhofft für alle Beteiligten, von ihrem Stuhl auf. Sie ließ sich nicht einmal davon aufhalten, dass sie diesen dabei mit einem lauten Krachen umgeworfen hatte. Früher hätte sie sofort der Gedanke, dass ihr Hintern bei diesem Missgeschick wieder zu dick gewesen war, in die Flucht geschlagen, bevor der Angriff überhaupt begonnen hätte. Wie eine Dampfwalze stürmte sie in Richtung Theke und baute sich mit bebender Brust vor ihrer Gegnerin auf. Beim Einatmen wölbte sich ihr Busen sogar leicht über ihren Ausschnitt, was ihr wiederum, unerwarteterweise, auch noch die Blicke mancher Männer einbrachte. Und die schienen plötzlich gar nicht mehr so negativ zu sein. Chantal war blitzartig der Mittelpunkt eines Melodrams, das sich live und in Farbe in ihrem Lieblingscafe abspielte. Bevor sie zu ihrer Verbalattacke ansetzte, herrschte auf einmal absolute Stille. Nur das Herunterfallen eines Kaffeelöffels durchbrach die gespenstische Ruhe und war gleichzeitig Chantals Startsignal.

»Was glaubst du eigentlich, gibt dir das Recht, so eine unqualifizierte Kacke zu labern und dich über andere lustig zu machen, du abgemagertes Möchtegernmodel?«, schrie Chantal mit ungefähr 120 Dezibel in das Gesicht von Blondchen. Die war so perplex, dass sie keinen Ton herausbrachte, und schien völlig unfähig, irgendetwas Adäquates zu erwidern. Bisher sind die Dicken immer gleich weinend davongerannt. So eine offene Konfrontation war sie überhaupt nicht gewohnt. Chantal nutzte diese Gelegenheit, um in diesem Moment die angestaute Wut der letzten Jahre über die ungerechte Fettpolsterverteilung komplett und in vollem Umfang an ihr auszulassen.

»Glaubst du Männer finden es gut, wenn sie nach einer Nacht mit dir erstmal zum Schreiner müssen, um sich die Spreißel aus ihrem kleinen Freund entfernen zu lassen? Die müssen ja Angst haben, dass du in der Mitte auseinanderbrichst, wenn sie mal ein bisschen härter rangehen.«

Blondchen wich so langsam die Solariumbräune aus dem Gesicht, als Chantal erst so richtig in Fahrt kam. Sie zog an ihrem Top, um einen Blick auf das Flachland werfen zu können, das sich nur durch zwei kleine Bodenwellen von der Oberfläche des Bodensees unterschieden hatte.

»Wo ist denn deine Brust? Hast du die zu Hause vergessen? Bei dir müssen die Männer ja Angst haben, dass sie einen Kerl mit Frauenperücke im Bett liegen haben. Dir hat doch bestimmt schon mal einer an den Haaren gezogen, um zu sehen, ob sie echt sind, oder?«

Chantal hatte Blondchen einen Fön verpasst, dem diese nichts entgegenzusetzen hatte. Sie machte auf dem Absatz kehrt und ihre ebenso fleischlosen Freundinnen folgten ihr. Aber nicht, ohne dabei trotzdem noch die Nase nach ganz oben zu halten. Chantal ballte die Faust und ließ ihre Zufriedenheit mit einem lauten »JA« heraus. Sie legte eine locker leichte Pirouette hin und tänzelte so leichtfüßig es ihr möglich war zurück an den Tisch und nahm wieder neben Hermine Platz. Die saß immer noch mit offenem Mund da und starrte ihre Freundin an, als ob sie eine Außerirdische wäre.

»Wow«, war das einzige, was sie herausbrachte, bevor sie wieder die debil aussehende, offene Mundstellung eingenommen hatte.

»Fängt der Kampf an oder nicht?«, sagte Chantal zu Hermine und hielt ihr die Hand zum Abklatschen hin. Mit dem Klatschen brach auf einmal wilder Beifall im Cafe aus und die beiden kamen das erste Mal in den Genuss dieser männlichen Pfeiftöne, die angeblich so nervig sein sollten. Waren sie nicht. Überhaupt nicht. Die hätten den ganzen Tag weiter pfeifen können, wenn es nach den „Dicken Freundinnen“ gegangen wäre. Mit jedem Pfiff schien etwa ein Kilo Gewicht zu schwinden. Aber wollten sie das denn überhaupt noch? Wäre es nicht viel geiler mit ihren Reizen den dünnen Püppchen einfach so die Männer vor der Nase wegzuschnappen? Chantal war sich nicht mehr sicher, ob sie auch nur einen Zentimeter ihres kurz zuvor perfekt eingesetzten Brustumfangs abgeben wollte. Vorsichtshalber entschied sie sich dafür, ebenfalls einen Megaeisbecher zu bestellen, um nicht voreilig unnötig Gewicht zu verlieren. Zuerst wollte sie einen Push-Up BH kaufen und testen, was sie alles aus ihrem Dekollete noch herausholen könnte. Der Höhenflug des Tages erreichte in dem Moment seinen nicht mehr zu steigernden Höhepunkt, als die Bedienung ihnen gesagt hatte, die Eisbecher wären bereits von dem George Clooney ähnlichen Typen bezahlt worden, der den beiden, während er gerade das Cafe verließ, noch ein Augenzwinkern zugeworfen hatte.

»Hau mir bitte eine rein«, sagte Chantal zu ihrer Freundin.

»Wieso das denn?«

»Ich glaube kneifen reicht nicht aus, um aus diesem Traum wieder aufzuwachen.«

»Dann lass uns doch hier bleiben.«

»Hast recht. Warum aufwachen, wenn es am schönsten ist?«

Auch wenn sie nach reiflicher Überlegung und Gründen der Bequemlichkeit ihre Kurven weitestgehend behalten wollte, beschloss Chantal noch an diesem Nachmittag endlich den Fitnessvertrag auszunutzen und mindestens dreimal die Woche dort hin zu gehen.

»Dreimal die Woche?«, fragte Hermine entgeistert. »Hast du sie noch alle. Das überlebe ich definitiv nicht. So viel Bewegung schadet bestimmt.«

»Wir müssen es ja auch nicht gleich übertreiben. Aber wo sonst laufen so viele testosterongesteuerte Männer herum? Wir können ja mal hingehen. Vielleicht kommen wir ja auch ohne Training mit Männern in Kontakt.«

»Aber die stehen doch bestimmt alle auf diese Hungerhaken aus der Poweraerobicgruppe.«

»Das werden wir noch sehen«, antwortete Chantal siegesgewiss.