Jesus 2.0 - Leseprobe

 


Kapitel 4

 

Levi hatte in den ersten vierzehn Jahren, seit seinem Vollrausch im Säuglingsalter, fast komplett auf die Sache mit seiner Gabe verzichtet. Nur das mit dem Pausenbrot und ein paar andere zwingend notwendige Erziehungsmaßnahmen gingen auf sein Konto. Doch als plötzlich sein Hormonhaushalt während der Pubertät anfing, verrückt zu spielen, wurde die Versuchung immer größer.

Sarah ging in seine Parallelklasse und war so ziemlich der heißeste Feger, den seine ganze Klassenstufe zu bieten hatte. Sie war wunderschön und vor allem körperlich schon komplett entwickelt. Zumindest konnte sich Levi nicht vorstellen, dass sich irgendetwas an ihr noch weiter entwickeln könnte. Und wenn, dann hätten sicher überirdische Kräfte ihre Hände im Spiel.

Es war gerade ziemlich heiß und Sarah hatte die Angewohnheit bei Temperaturen über zwanzig Grad auf unnötige Stoffmengen weitestgehend zu verzichten. Sie hatte ein knallenges Trägertop an, das ihre weiblichen Rundungen schon fast unverschämt gut betonte. Über das kurze Höschen, das sich formvollendet an ihren Hintern schmiegte, durfte er gar nicht erst nachdenken. Das war so ein Moment, indem er seinen Glauben an Gott wenigstens einigermaßen begründet sah. Einem Menschen konnten solch perfekte Proportionen einfach nicht einfallen. War das der Job Gottes? Egal, meistens kam er in seinen Überlegungen nicht viel weiter und seine Eltern sagten ihm auch immer wieder, dass die Sache mit Jesus und so, eh nicht bewiesen sei. Zweifel kamen ihm selbst, wenn er in den Spiegel schaute und sich fragte, warum gerade er von einer ausgeprägten Ganzkörperakne heimgesucht wurde. Hatte Gott bei ihm keine Lust gehabt, oder war Sarah einfach nur Zufall?

Und dann war da ja noch die Sache mit seiner Gabe. Irgendwas musste ja auch hier dahinterstecken. Er hatte irgendwann versucht seinen Eltern davon zu erzählen, aber der Schuss ging gewaltig nach hinten los. Selbst als er zum Beweis eine tote Maus wieder zum Leben erweckt hatte, bekam er nur Scherereien. Seine Eltern unterstellten ihm Tierquälerei und waren der Ansicht, er hätte die Maus vorher betäubt und wollte sich damit nur wichtigmachen. Das Ende vom Lied waren fünfundzwanzig Therapiesitzungen, da seine Mutter herausfinden wollte, woher diese perversen Neigungen ihres Sohnes kamen. Obwohl sie ihm doch immer einen liebevollen Umgang mit Tieren vorgelebt hatte. Wie auch immer, Levi erzählte dem Therapeuten, was er hören wollte, Mami war zufrieden und er kam zu der Erkenntnis, dass seine Eltern wohl der falsche Ansprechpartner für diese Dinge waren. Leider hatte er gar keinen Ansprechpartner für diese Themen. Vor einem halben Jahr wollte er seinem Kumpel Louis davon erzählen, bekam aber als Antwort nur den Ratschlag, mit den Drogen wider aufzuhören, bevor er komplett abhängig werden würde. Da hatte er etwas, das eigentlich ziemlich beeindruckend war, aber es schien irgendwie niemanden zu interessieren. Gabe hin, Hormone her. Er konnte sich, was Sarah betraf, nicht länger zurückhalten, nahm seinen ganzen Mut zusammen und sprach sie an.

»Hallo«, sagte Levi. Das war leider alles, was er sich von seiner geplanten Gesprächseröffnung in ihrer Gegenwart hatte merken können und der Eindruck, den er damit hinterließ, war eher mäßig. Sarah drehte den Kopf für einen Moment in seine Richtung, ließ ihre Augen an ihm kurz auf und abgleiten und beschloss wohl im selben Moment ihn komplett zu ignorieren. Nicht mal ein Kopfnicken, als Andeutung eines Grußes bekam er als Reaktion.

»Pickelfresse«, war das einzige Wort, das er noch hören konnte, als Sarah sich schon wieder ihrer Freundin zugewandt hatte. Im Normalfall wäre spätestens jetzt eine Pausenbrotumwandlung oder Trinkflaschenbeeinflussung fällig gewesen, aber bei Sarah schaffte er das einfach nicht. Sie war einfach viel zu schön. Als schöner Mensch waren scheinbar viele Dinge einfacher. Levi dachte ein wenig über diese These nach und kam trotzdem kein Stück weiter.

»Arrogante Schnepfe«, sagte plötzlich ein Italiener im Nadelstreifenanzug, der aussah, als wäre er einem Mafiaepos aus Hollywood entsprungen. Levi zuckte erschrocken zusammen und war sich hundertprozentig sicher, dass eben noch niemand neben ihm gestanden hatte. Ungläubig und unfähig eine Antwort zu geben, starrte Levi den Italiener mit offenem Mund an und fragte sich, ob er vielleicht doch einen an der Klatsche hatte. Ausgesehen hatte er in diesem Moment definitiv so. Es wirkte ziemlich debil, als ihm vor lauter Glotzen auch noch ein Speicheltropfen aus dem Mundwinkel tropfte.

»Mach dir nichts draus«, fuhr der Italiener fort. »Jetzt wird alles besser.«

»Echt jetzt?«, fragte Levi und dachte darüber nach, einfach wegzurennen. Ganz normal war der Typ nicht. Vor allem, was hatte er um diese Uhrzeit auf dem Schulhof zu suchen. Wie der neue Hausmeister sah er jedenfalls nicht aus. Ableistung von Sozialstunden wegen illegaler Mafiageschäfte schloss Levi auch aus und so blieb einzig und allein die Erkenntnis, dass es wohl am ehesten dieser Typ sein musste, der bekloppt war.

»Na klar«, bestätigte der Pate und klopfte Levi auf die Schulter. Wenn Levi in diesem Moment schon gewusst hätte, dass dieser merkwürdige Mensch ein Engel war und eigentlich Bastian hieß, wäre er aber mit Sicherheit auch nicht beruhigter gewesen.

Bastian hatte vom Chef eindeutige Anweisungen bekommen. Er sollte die Zielperson auf keinen Fall vor den Kopf stoßen, indem er ihm zu schnell von seiner eigentlichen Herkunft erzählte. Vertrauen aufbauen war die Devise. Langsames heranführen an die Wahrheit. „Alles dämliches Blabla“, dachte sich Bastian und entschied sich kurzerhand für die direkte Variante. Umso schneller würde er fertig sein und könnte sich den wichtigen Dingen des Erdenbesuchs widmen.

»Junge, ich muss mal mit dir reden.«

»Jetzt gleich?«

»Warum warten?«

»Es hat geklingelt. Ich muss ins Klassenzimmer«, antwortete Levi. Der Italiener machte allerdings nicht den Eindruck, als würde ihn Levis Situation sonderlich interessieren.

»Dauert auch nicht lange.«

»Na dann.«

»Ich bin Bastian.«

»Levi.«

»Weiß ich.«

»Woher?«

»Ich bin ein Engel und wurde geschickt, um dich mit deiner Aufgabe vertraut zu machen.«

»Ich muss weg«, sagte Levi und rannte ins Klassenzimmer.

»Mist«, fluchte Bastian und setzte sich auf eine Bank, die am Rande des Schulhofes stand. Diese Warterei kotzte ihn an. Was war das nur für ein Idiot. Immer wurde erzählt, die Menschen wären völlig aus dem Häuschen, wenn irgendwo ein Engel auftauchte, aber das war wohl ziemlich pauschal. Gut, Levi war ja nicht direkt ein Mensch.

»Trotzdem«, zeterte Bastian vor sich hin. »Hätte er nicht einfach sagen können: „Prima, hab ich jetzt einen Wunsch frei?“, oder so? Verzogener Rotzlöffel.«

Bastian arbeitete einen Plan aus, der todsicher funktionieren müsste. Er hatte die Idee, Levi einen Tipp zu geben, wie er Sarah mit seiner Gabe abschleppen könnte. Das sollte auf jeden Fall klappen. Schließlich war er ja scharf auf das Mädel. Leider kam Bastian nicht mehr dazu, es ihm zu sagen. Zumindest nicht an diesem Tag. Levi hatte dem Lehrer von diesem komischen Kerl auf dem Schulhof erzählt und in Zeiten, in denen man ständig etwas von Pädophilen hörte, fackelte dieser nicht lange. Er rief die Polizei an, der die Geschichte mit dem Engel extrem verdächtig vorkam und beobachtete mit seiner Klasse durch das Fenster, wie Bastian abgeführt wurde.

»Was soll das?«, rief Bastian. Er war schon kurz davor, sich einfach verschwinden zu lassen, besann sich aber gerade noch rechtzeitig auf die oberste Regel für Erdenbesuche: „KEINE ZAUBEREI UNTER ZEUGEN“. Bescheuerte Regel, dachte sich Bastian, wollte sich aber dennoch daran halten, da er befürchtete bei Nichtbeachtung sofort wieder von seinem Außendiensteinsatz abkommandiert zu werden. Er hatte dunkel in Erinnerung, dass einem Typen namens Harry Potter auch immer an den Karren gefahren wurde, wenn er an verbotenen Orten zauberte. Allerdings hatte er nur über ein paar Ecken von ihm gehört und wusste nicht wirklich, wer das war. Karten spielte er jedenfalls nicht. Bastian hatte keine Ahnung, dass Harry Potter die Hauptfigur aus einem der bekanntesten Jugendbücher der Welt war. Allein die Tatsache, dass es keine echten Zauberer auf der Erde gab, hätte ihn stutzig machen müssen. Doch er war meistens zu faul, um sich ernsthaft Gedanken über Sachen zu machen, die er nur am Rande aufschnappte und die ihn nicht weiter interessierten. Und so wartete er, bis es in seiner übelriechenden Zelle dunkel und die Kontrollgänge der Wärter seltener wurden. Kurz bevor er sich lautlos durch die Wand verdünnisieren wollte, flog die Tür auf und ein ziemlich zerlumpter Typ wurde zu ihm hineingeschoben. Er stank nach Alkohol und hatte sich mindestens drei Monate nicht rasiert. Dann fiel ihm plötzlich Bastian auf und er schaute ziemlich verwundert aus seiner verdreckten Wäsche.

»Was machst du denn hier?«, fragte er und schwankte gefährlich weit nach allen Seiten. Komischerweise konnte er noch relativ deutlich reden.

»Eine Verwechslung«, antwortete Bastian und fragte sich, ob dieser Penner wohl auch zu den Personen gehörte, vor denen man keine übernatürlichen Dinge abziehen durfte.

»Wie bei mir, hicks«, war die Antwort und damit waren auch Bastians Bedenken zerstreut. Er vergeudete keinen weiteren Gedanken und verschwand. Sein kurzzeitiger Zellenmitbewohner wunderte sich einen Moment, schüttelte den Kopf und legte sich auf die Pritsche, um seinen Rausch auszuschlafen.

»Levi wird jetzt eh schlafen«, redete sich Bastian ein und rechtfertigte damit vor sich selbst, erst am nächsten Morgen wieder einen neuen Anlauf zu starten, den offensichtlich ziemlich unwissenden Messias zu erleuchten. Stattdessen machte er sich auf, das Nachtleben zu erkunden und hielt, wie von seinem Pokerkumpel empfohlen, Ausschau nach heftig blinkender Leuchtreklame, die in der Regel auf eine Spielhölle hindeutete. Was seiner Meinung nach ein ziemlich passender Name für etwas war, dass im Himmel nicht wirklich gerne gesehen wurde. Es dauerte auch nicht lange, bis er fündig wurde. Sein Kumpel hatte noch die Anmerkung mit dem Hintereingang oder Nebenzimmer gemacht. Die Oase eines jeden Spielerherzens lag direkt vor ihm, doch der Eintritt wurde ihm verwehrt. Eben dieser kostete etwas und er hatte natürlich kein Geld. Wozu auch? Engel müssen nicht essen und nicht trinken. Genauso wenig, wie atmen.

Doch irgendwann kam einer auf die Idee, die Arbeitsleistung der Beschäftigten steigern zu können, wenn diese in ihrer Freizeit gelegentlich über die Stränge schlagen und Spaß haben dürften. Natürlich alles in einem angemessenen Rahmen. Kurz nach der Ethikkommission wurde auch eine Arbeitsgemeinschaft zur Genussmittelkonsumierung gegründet, die ordentlich Zulauf hatte. Sie war auch deutlich beliebter, als die Ethikkommission. Jedenfalls setzten sie zur Freude Bastians durch, dass in Ausnahmefällen, wie zum Beispiel bei Betriebsfeiern, Alkohol konsumiert werden durfte, obwohl man dessen Erfindung dem Kollegen aus der Unterwelt zuschrieb. Wenn an diesem Abend schon nichts mit Zocken war, steckte Bastian seinen Finger in den nächsten Brunnen, machte Wasser zu Wein und haute sich dermaßen einen hinter die Binde, dass er erst am nächsten Morgen irgendwo im Park aufwachte, als Levi schon wieder auf dem Weg in die Schule war. Das war der Nachteil von Alkohol. Dadurch wurden selbst Engel müde. Und wenn sie es zu sehr übertrieben, bekamen sie sogar Kopfschmerzen. Und im Himmel gab es kein Aspirin.