LUX - Das Tor nach Luminea

 


Kapitel 1

 


»Wenn ich mich ganz fest anstrenge, muss ich vielleicht doch nicht erwachsen werden. Oder möglicherweise nicht ganz so schnell?«

Lilly lag auf ihrem Bett und machte sich, wie so oft, Gedanken über das Unvermeidliche. Eigentlich hatte sie sich darauf gefreut, endlich älter zu werden und mehr Freiheiten zu haben. Nach reiflicher Überlegung kam sie aber zu dem Entschluss, dass sie eigentlich gar nicht erwachsen werden wollte. Selbst die Pubertät kam ihr schon viel zu anstrengend vor. Und vor allem viel zu ungerecht. Ständig gab es irgendwelche Pöbeleien in der Schule. Manchmal traf es sie, manchmal die anderen. Aber dumm und ungerecht erschien es ihr immer. Sie wusste auch nicht, bei wem sie sich darüber beschweren sollte. Es schien niemandem wirklich aufzufallen. Es konnte doch nicht sein, dass dieses bescheuerte Verhalten ganz normal war.

Lilly stach nicht aus der Masse heraus und das wollte sie auch gar nicht. Sie wollte einfach ihre Ruhe. Irgendwann hatte sie beschlossen, sich besser aus allem herauszuhalten. Sie war einfach noch nicht soweit und im Grunde wollte sie auch in Zukunft nie so weit sein. Denn dann würde sie ja bestimmt genauso dämlich werden, wie ihre Klassenkameradinnen. Doch irgendwie schien selbst das die anderen Teenager zu provozieren. Vielleicht interpretierten diese das als Versuch, cooler als sie selbst zu sein. Und das war natürlich von den Coolsten der Coolen absolut nicht zu tolerieren. Nur weil sie sich nicht dazu verleiten ließ, auf jeden Zug, der durch den Pubertätsbahnhof raste, aufzuspringen, wurde sie zum Feindbild. Na ja, das war vielleicht etwas übertrieben, aber zumindest stand sie auf der Liste der potentiellen Mobbingopfer ganz weit oben. Sie hatte keine besonderen Klamotten an, sondern beschränkte sich auf Jeans, Shirts, Kapuzenpulli oder was eben sonst gerade ganz oben im Schrank lag. Ihre Frisur war nichts Außergewöhnliches und auch auf die Modeschmuckklunker legte sie keinen Wert. Ihre Schultasche war noch eine alte Ledertasche ihrer Mutter, die sie beim Stöbern auf dem Dachboden gefunden hatte. Alles ganz normal und für manche trotzdem der offensichtliche Versuch, sich von der Masse abzuheben. Hob man sich automatisch von der Masse ab, wenn man versuchte dies nicht zu tun? Diese Frage geisterte ihr ziemlich oft im Kopf herum.

Ihre Klassenkameradin und Freundin Zoë war die einzige, die ihre eigene Entwicklung genauso gerne verlangsamt hätte. Obwohl sie eigentlich überhaupt nichts machten, was andere auch nur im Entferntesten stören könnte, wurden Lilly und Zoë irgendwann doch zur Zielscheibe ihrer frustrierten Klassenkameradinnen, wenn diese gerade mal nicht ihren Traumjungen abbekamen, das Handyguthaben schon wieder aufgebraucht war oder wenn es denen, die am liebsten schon ganz erwachsen gewesen wären, mit der Entwicklung wieder nicht schnell genug ging. Es war einfach zum Kotzen, aber leider nicht zu ändern.

Immer wenn die Ungerechtigkeit den beiden Freundinnen viel zu übermächtig erschien, flüchteten sie sich in ihren Gedanken in ihre ganz eigene Welt und malten sich die tollsten Dinge aus. Ihre Welt hieß Luminea. Dort konnten sie durch die Kraft ihrer Wünsche alles schaffen, was sie wollten. Sie hatten magische Kräfte, sie konnten zaubern und vor allem lebten in dieser Welt alle in Frieden miteinander. Niemand wollte dem anderen etwas Böses. Eine Welt, die es in Wirklichkeit niemals geben könnte, aber in ihren Gedanken so klar und deutlich war, dass es ihnen manchmal schon fast unheimlich war. Es war wie eine Sucht.

Eines Tages fanden sei bei einem Streifzug durch den Wald, während sie ihre Gedanken wieder auf fantastische Reisen schickten, ganz zufällig eine kleine Höhle. Sie wären fast daran vorbeigelaufen, aber Lilly sah im Augenwinkel, wie eine kleine Maus scheinbar aus dem Nichts auf den Weg sprang.

»Hast du das gesehen?«, wollte sie von Zoë wissen. »Wo ist die Maus denn plötzlich hergekommen?«

»Keine Ahnung?«, antwortete Zoë und ging langsam auf die Stelle zu. Es sah so aus, als wäre der steile Hang einfach nur mit Gestrüpp bewachsen. Doch als sie einige Äste beiseitegeschoben hatte, war dahinter gar nicht die steinige Wand, die sie dort vermutet hatten, sondern ein tiefes dunkles Loch.

»Schau mal«, rief Zoë. »Das sieht aus wie eine Höhle.«

Lilly kam zu ihr und die beiden streckten ihre Köpfe hinein.

»Ich finde, da sieht man gar nichts«, sagte Lilly, die auch wirklich überhaupt nichts darin erkennen konnte. Als sie ihren Arm hineinstreckte, verschwand ihre Hand in der Dunkelheit. »Wir brauchen Licht.«

Sie kramte ihren Schlüsselbund hervor, an dem eine Minitaschenlampe hing. Diese hielt sie Zoë direkt vor die Nase und knipste sie an.

»Na? Was sagst du? Bin ich nicht mal wieder bestens ausgerüstet?«

»Muss ich dich jetzt erst loben oder hältst du deine Lampe einfach in diese Höhle, oder was auch immer das da sein soll?«

»Ein bisschen loben wäre nicht schlecht«, kicherte Lilly, obwohl sie es ja selbst kaum erwarten konnte, Licht in das Dunkel zu bringen.

»Na gut«, stöhnte Zoë. »Du bist die natürlich die Allerbeste. Reicht das?«

»Ein bisschen dürftig, aber ich lass es mal so durchgehen.«

Endlich hielt Lilly ihre Taschenlampe so tief sie konnte in das dunkle Loch und die beiden staunten nicht schlecht. Durch den kleinen Eingang konnten sie nun einen Gang erkennen, dessen Ende das Licht der Lampe nicht erreichen konnte. Es war zwar nur eine kleine Taschenlampe und der Lichtstrahl entsprechend schwach, aber es war mehr, als die beiden erwartet hatten.

»Los, lass uns reingehen«, sagte Lilly.

»Meinst du wirklich?« antwortete Zoë etwas unsicher. »Was, wenn darin ein Bär oder so was wohnt?«

»Dann ist der mit Sicherheit verhungert, weil er nicht durch den kleinen Eingang passt.«

»Also gut«, gab Zoë nach. »Aber nur ein Stückchen.« Wohl war es ihr allerdings nicht dabei.

Die beiden drängten sich durch das Gestrüpp und gingen in gebeugter Haltung in die Höhle. Obwohl draußen heller Tag war, schaffte es das Licht maximal zwei Meter in die Höhle. Danach war es stockdunkel. Lillys kleine Taschenlampe schaffte es kaum, den Weg zu leuchten. Nach weiteren zwei Metern konnten sie auf einmal aufrecht gehen und befanden sich plötzlich in etwas, das fast schon nach einem Raum aussah. Ein Raum, der zwar keine richtigen Wände hatte und der Boden aus natürlichem Gestein bestand, aber es war das perfekte Geheimversteck.

»Wahnsinn«, sagte Lilly und Zoë stimmte ihr nickend zu. Auch wenn das Nicken in diesem schwachen Licht niemand sehen konnte. Lilly versuchte mit der kleinen Taschenlampe an der Wand entlang zu gehen, um feststellen zu können, wie groß der Raum eigentlich war. Dabei sah sie nichts, was darauf deuten konnte, dass diese Höhle schon vor ihnen jemand entdeckt hatte. Zumindest nicht sofort. Es war einfach noch nicht hell genug.

»Das ist das perfekte Versteck«, jubelte Lilly.

Zoë sah das anfangs eher etwas skeptisch. »Na ja, es ist dunkel, es ist feucht und irgendwie auch ein bisschen unheimlich.«

»Du alte Miesmacherin«, stöhnte Lilly. »Morgen kommen wir einfach wieder her, bringen ein paar Kerzen und Decken mit und schauen uns mal richtig um. Mit ein bisschen mehr Licht sieht es hier bestimmt gleich ganz anders aus.«

»Eine Couch und einen Fernseher werden wir aber wohl trotzdem nicht finden.«

»Ach Zoë. Wo ist denn deine Fantasie?«, fragte Lilly. »Wir machen es uns einfach ein bisschen gemütlich und stellen uns vor, das hier wäre Luminea. Hier haben wir unsere Ruhe und sind die Königinnen unserer kleinen Welt.«

»Mhm«, brummte Zoë und war nicht ganz so begeistert, wie ihre Freundin. »Dann kommen wir eben morgen noch mal. Aber ich verspreche dir jetzt nicht, dass ich dann ständig hier drin herumsitzen will.«

Lilly sagte gar nichts dazu und malte sich in ihren Gedanken schon aus, was sie alles in die Höhle schleppen wollte. Sie hatte zwar keine Ahnung wie, aber das konnte sie sich ja auch später noch überlegen.

Am nächsten Nachmittag wollten die beiden dann gleich nach den Hausaufgaben zu ihrer Höhle gehen. Lilly hatte sofort nach der Schule das ganze Haus nach Kerzen und Teelichtern durchsucht. Dabei fand sie sogar noch ein großes gläsernes Windlicht, das sie Zoë voller Stolz entgegenstreckte.

»Willst du zu Hause ausziehen?«, fragte diese, als sie Lilly mit einem großen Rucksack, der Laterne in der einen und einer dicken Decke in der anderen Hand auf sie zukommen sah.

»Das ist nur das Nötigste«, grinste Lilly.

»Oh je«, antwortete Zoë. »Und für den Rest lässt du einen LKW kommen?«

»Du kannst ja auf dem Boden sitzen. Ich will es gemütlich haben.«

»Gib her, ich nehme dir etwas ab.«

Lilly und Zoë liefen zielstrebig zu ihrer Höhle. Lilly zog das Gestrüpp beiseite und stutzte. Da war keine Höhle mehr. Nichts, was an den aufregenden Gang vom Vortag erinnert hätte. Obwohl sie sich die Stelle genau eingeprägt hatte.

»Das gibt’s doch nicht«, sagte Lilly überrascht. »Ich hätte schwören können, dass es genau hier war.«

»Lass uns einfach noch mal den Weg ablaufen. Der Eingang kann ja nicht einfach verschwunden sein.«

Mindestens fünf Mal liefen die beiden den Waldweg auf und ab. An keiner Stelle des steilen Hangs an der einen Seite war irgendetwas, das auf die Höhle hindeutete. Niedergeschlagen ließ sich Lilly an genau der Stelle nieder, an der am Tag zuvor noch der Eingang gewesen war.

»Hier war es«, sagte sie. »Genau an dieser Stelle.

»Dann wäre der Eingang heute auch noch hier«, antwortete Zoë. »Vielleicht sind wir gestern auch einen anderen Weg gelaufen. Hier gibt’s doch so viele.« Auch wenn sie selbst davon gar nicht überzeugt war, versuchte sie es sich tapfer einzureden. Alles andere wäre ja auch nicht zu erklären gewesen. Trotzdem wurde ihr die Sache langsam unheimlich.

»So ein Quatsch«, winkte Lilly ab. »Du weißt so gut wie ich, dass es hier war.«

Schweigend saßen sie nebeneinander und Lilly grübelte unentwegt, warum sie ihre Höhle nicht mehr fanden. Es wäre so schön gewesen, einen geheimen Platz für Luminea zu kennen, von dem sonst niemand wusste. In ihren Gedanken steigerte sie sich immer weiter hinein. Es war so ungerecht. Endlich hatte sie einen Ort gefunden, den nur sie und Zoë kannten. Sie wünschte es sich so sehr, dass sie ohne darüber nachzudenken, laut fluchte. Sie ließ ihren Gefühlen freien Lauf.

»Verdammt noch mal«, rief sie energisch und traurig zugleich. »Ich hatte es mir doch so gewünscht.«

Und plötzlich spürte sie, wie sich etwas an ihrem Rücken veränderte. Es fühlte sich an, als würde der Hang nachgeben. Es durchströmte sie ein unheimliches Gefühl. Von einer Sekunde auf die andere war sie furchtbar aufgeregt. Alles ging so schnell, dass sie gar nichts dazu sagen konnte. Einen Moment später fiel sie nach hinten und verschwand mit ihrem Oberkörper im Gestrüpp.

»Was ist das denn jetzt?«, schrie Zoë schon fast panisch. Sie zerrte wie wild an den kleinen Ästen und Zweigen, um ihrer Freundin zu helfen. Als sie deren Gesicht wieder sah, blickte Lilly ihr strahlend entgegen.

»Sie ist wieder da«, jubelte sie und rappelte sich sofort wieder auf.

»Was meinst du mit wieder da?«, antwortete Zoë fragend.

»Vorhin war hier nichts. Da bin ich mir ganz sicher. Und jetzt ist der Eingang zu unserem Geheimversteck wieder da. Unser Eingang nach Luminea.«

»Vorhin muss der Eingang auch dagewesen sein. Wir haben ihn nur nicht gesehen. Oder glaubst du, die Höhle ist verschwunden und kam dann wieder, weil sie gemerkt hat, wie traurig du bist?«

Lilly legte ihre Stirn in Falten und überlegte. Erklären konnte sie sich die ganze Sache ja nicht. Irgendwas war ziemlich merkwürdig. Es kam ihr sogar ein bisschen magisch vor. Aber wenn sie das jetzt sagen würde, hätte Zoë sie sicher für verrückt erklärt. Vielleicht hatte Zoë ja sogar recht, mit dem was sie gesagt hatte.

»Wie auch immer. Lass uns reingehen.«

Zoë war extrem verwirrt. Die Situation war mehr als komisch. Sie hatte ja selbst jede Stelle am Hang abgesucht. Jeden Zweig auf die Seite geschoben und genauso wenig gefunden, wie ihre Freundin. Als Lilly die erste Kerze anzündete und damit die Höhle erleuchtete, schüttelte Zoë den Kopf und wollte damit diese Gedanken verdrängen. Als ob es so einfach wäre.

»Warum schüttelst du den Kopf?«, wollte Lilly wissen.

»Ach, nichts«, antwortete Zoë und konnte aber nicht wirklich aufhören zu grübeln.

Die beiden zündeten immer mehr Kerzen an und die Höhle erstrahlte in einem ganz neuen Licht. Sie war einfach perfekt für ihre Zwecke. Lilly breitete die Decke aus und machte es sich gemütlich. Zoë dagegen inspizierte jede Ecke ihres neuen Domizils, mit dem sie sich aber immer noch nicht so richtig anfreunden konnte. Plötzlich stockte sie und starrte wie gebannt auf die steinerne Wand am hinteren Teil der kleinen Höhle. Zoë nahm sich das Windlicht, das Lilly mitgebracht hatte, und hielt es direkt an diese Stelle. Langsam wurde ihr die Sache noch unheimlicher.

»Lilly, komm schnell«, sagte Zoë aufgeregt und das Herz schlug ihr bis zum Hals.

»Was ist denn? Hier ist es gerade so gemütlich«, antwortete Lilly und streckte sich auf der flauschigen Decke.

»Das musst du selbst sehen.«

»Na gut«, stöhnte Lilly, rappelte sich etwas widerwillig auf und stellte sich neben Zoë. Die zeigte wortlos mit dem Finger an die Wand.

„Seid auf der Hut. Der Schein trügt.“

Diese Worte waren in die Wand geritzt und was Zoë einen Schauer über den Rücken laufen ließ, versetzte Lilly dagegen gar nicht in Panik.

»Na und?«

»Findest du das nicht komisch?“

»Sollte ich?«

Genau erklären konnte Zoë ihr Gefühl auch nicht. Zuerst der verschwundene und plötzlich wieder aufgetauchte Höhleneingang. Dann dieser komische Spruch. Vielleicht lag es auch nur an der dunklen Höhle. Sie konnte es nicht einschätzen.

»Ich weiß auch nicht. Irgendwie kommt mir die Sache komisch vor.«

»Was soll denn schon sein? Es wird schon kein Monster aus der Wand kommen und dich fressen. Dann war halt doch schon mal jemand hier drin.«

Als Lilly sich wieder abwandte, blieb ihr Blick am Boden haften. Sie konnte es nicht genau erkennen, aber dort schimmerte etwas.

»Halt die Lampe mal hierhin«, forderte sie ihre Freundin auf.

Lilly bückte sich und sah, dass dieses Schimmern von einer Halskette kam. Als sie die Kette aufhob, sah sie sogar einen Anhänger daran baumeln.

»Schau mal«, sagte sie zu Zoë und hielt ihr das Fundstück unter die Nase. »Vielleicht hat das der Schreiberling verloren.«

»Hier steht sogar was drauf«, antwortete Zoë und hielt den Anhänger fest.

LUX

»Was bedeutet das?«, fragte sie.

»Licht, oder so«, antwortete Lilly und fing auch ein bisschen an zu grübeln.

»Lass uns gehen«, sagte Zoë und spürte, wie sie ein leichter Schauer überkam. »So langsam bekomme ich wirklich Angst.«

»Aber nur, wenn wir wiederkommen«, forderte Lilly.

»Meinetwegen«, entgegnete Zoë, obwohl sie nicht genau wusste, ob das eine gute Idee sein würde. Die beiden packten ihre Sachen zusammen und sprachen auf dem Heimweg kaum ein Wort. Auch Lilly gingen sehr verwirrende Gedanken durch den Kopf. Immer wieder fragte sie sich, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Anhänger und dem Spruch an der Wand gab. Sie wollte es ihrer Freundin gegenüber nicht zugeben, aber ein bisschen Angst hatte sie vorhin auch gehabt. Sie wusste zwar nicht genau wovor, aber dieses komische Gefühl wollte einfach nicht weichen. Sofort als sie die Höhle betreten hatten, war irgendwie alles anders. Sie fühlte sich plötzlich so weit entfernt von allem, obwohl sie ja nur ein paar Meter in diese Höhle gegangen waren. So ein „weit weg Gefühl“ hatte sie nicht einmal gehabt, als sie letzten Sommer im Urlaub in Spanien war. Und das war wirklich weit weg.